Die Welt neu sehen, Silvia Chytil

Diese Woche kam eine Kundin sehr aufgeregt in unsere Coaching-Sitzung. Ein Kunde von ihr, mit dem sie schon sehr lange und auch sehr gut zusammenarbeitete, rief sie an, um ein aktuelles Projekt zu besprechen. Am Anfang war das Telefonat auch sehr konstruktiv, doch dann sagte der Auftraggeber etwas, was sie total aus der Fassung brachte. Meine Kundin konnte sich gar nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern, war aber danach total aufgewühlt, wütend und sicher auch enttäuscht. Sie fühlte sich angegriffen, sagte der Kunde sei so arrogant, was ihr bisher noch nie aufgefallen war. Nun überlegte sie, ob sie überhaupt noch mit ihm weiterarbeiten kann und will.

In unserem Gespräch haben wir uns weniger mit diesem Vorfall selbst befasst, sondern darüber, warum sie plötzlich ihren Kunden mit anderen Augen sah. Sie meinte, dass sein Verhalten für ihre Unruhe verantwortlich war.

Aber stimmt das tatsächlich?

Der Irrtum

Wir alle kennen solche Begegnungen, in dem jemand etwas sagt oder tut, was uns vor den Kopf stößt. Wir fühlen uns ungerecht behandelt, empfinden den anderen als arrogant, machtbesessen, unfair, streitlustig, besserwisserisch, respektlos. Manchmal vergessen wir solche Vorkommnisse schnell wieder. Manchmal aber schwirren uns die Gedanken dazu noch tagelang im Kopf herum.

Wenn sich der Vorfall hartnäckig in unserem System hält, dann erwarten wir, dass unser Gegenüber sein Fehlverhalten erkennt und sich dafür entschuldigt oder anders verhält. Weniger arrogant. Nicht mehr Opfer. Nicht mehr geizig. Nicht mehr machtbesessen.

Das Problem dabei allerdings ist, dass wir hier einem Irrtum unterliegen und nicht erkennen, was die tatsächliche Ursache für unseren negativen Gefühle sind. Denn diese Denkweise geht davon aus, dass wir in einer „von außen nach innen“ Welt leben. Irgendwas passiert im Außen, wir fühlen uns schlecht und somit ist das Gegenüber für diese Gefühle verantwortlich. Und da er die Verantwortung dafür trägt, kann auch nur er (oder sie) das wieder auflösen.

Wir könnten dann sagen: Los sei nicht mehr so geizig. Der Andere spendet etwas Geld und schon fühlen wir uns besser. So einfach könnte es sein.

Ist es aber in den meisten Fällen nicht :-).

Der innere Ablauf

Nur warum funktioniert das so nicht?

Weil nicht die Situation oder die Person für unsere Gefühlslage verantwortlich ist, sondern wir selbst.

Denn wann ist ein Mensch arrogant? Oder in der Opferrolle? Oder machthungrig? Oder geizig?

Was ich als geizig ansehe, ist für dich vielleicht sparsam. Was du als machthungrig ansiehst, sieht jemand anderer als zielstrebig. Was meine Kundin als arrogant empfand, sieht der Kunde vielleicht als Präzisierung seiner eigenen Anforderungen und Wünsche.

Wie wir eine Situation empfinden, hängt immer von unserer eigenen inneren Bewertung ab.  Wir leben in einer von „innen nach außen Welt“ und dazu scannt unser Gehirn in einem fort die Umgebung und bewertet. Es steckt Situationen und Menschen in Schubladen und vergibt Maschen. Gut oder böse. Richtig oder falsch. Gefährlich oder ungefährlich. Geizig oder sparsam. Machthungrig oder zielstrebig. Opferrolle oder sich zur Wehr setzend.

Da das Ganze aber so schnell und unbewusst passiert, bekommen wir von diesem Vorgang nichts mit. Bewusst wird uns nur das Endprodukt. Und solange wir nicht wissen, was da in uns abläuft, fühlen wir uns Situationen immer wieder hilf- und machtlos ausgeliefert.

Schauen wir uns den Prozess, der für uns zum größten Teil unsichtbar ist und in Sekundenbruchteile abläuft, Schritt für Schritt an:

1. In unserer Außenwelt passiert etwas.

Fälschlicherweise glauben wir, dass das der Startpunkt unserer Gedanken und Gefühle ist. Tatsächlich aber wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, was in der Außenwelt passiert. Über unsere Sinne nimmt unser System im Durchschnitt ungefähr 40 Millionen Bits pro Sekunde wahr und verarbeitet sie! In unser Bewusstsein kommt davon nur ein minimaler Bruchteil (ungefähr 0,0004%). Bevor es aber soweit ist, passieren noch ein paar andere Schritte.

2. Wir (unser Gehirn) bewertet die Situation

Das Ereignis im Außen wird blitzschnell bewertet: Bekannt – unbekannt, richtig – falsch, gut – böse, gefährlich – ungefährlich.

Ist die Bewertung erfolgt, bekommt jede Situation oder Person einen Stempel aufgedrückt und wird in eine Schublade gesteckt. Noch immer haben wir keine Ahnung, dass irgend etwas abläuft.

3. Unser System entscheidet, ob es ins Bewusstsein kommt

Je nachdem in welcher Schublade sich nun das Erlebnis befindet, passiert entweder gar nichts (ein Ereignis, dass keiner weiteren Beachtung wert ist) oder aber es werden Folgeaktionen gesetzt. Handelt es sich um ein bedrohendes Ereignis (Gefahr!) oder ist eine bewusste Aktion (Telefon abheben) von uns erwartet, schüttet unser System Botenstoffe aus.

Und erst jetzt taucht irgendetwas in unserem Bewusstsein auf.

4. Wir spüren ein Gefühl oder haben einen bewussten Gedanken

Bevor also meine Kundin überhaupt feststellte, dass der Kunde etwas „Falsches“ gesagt hatte, durchlief die Aussage die oberen 3 Stationen.

Vermutlich hat ihr System einen Satz, ein Wort oder vielleicht auch nur den Tonfall als „Gefahr“ erkannt und es in die Schublade „Achtung – der hat dich gerade nieder gemacht, das darfst du dir nicht gefallen lassen!“ gesteckt.

Und das ist genau das, was in ihr Bewusstsein auftaucht: Gefahr – niedermachen – arrogant – Nicht gefallen lassen – Angriff oder Flucht?! Ein automatisiertes, inneres Programm wird gestartet.

5. Wir reagieren auf die Situation

Und genau auf das Etikett der inneren Schublade reagieren wir. Wir flüchten oder greifen an. Das sind die ursprünglichsten Reaktionen, die durch den Ausstoß von Hormonen bei uns ausgelöst werden. Wir verlassen das Zimmer und knallen wütend die Türe zu. Wir brüllen unser Gegenüber an. Meine Kundin hatte sich für die Flucht entschieden, denn sie hatte das Telefonat sehr bald danach beendet. Da es ein konditioniertes Programm ist, reagieren wir so, wie wir immer schon reagiert haben.

Aber diesen Automatismus können wir unterbrechen, sobald wir ihn erkennen.

Es sind unsere Schubladen

Dieser ganze Vorgang passiert so schnell unbewusst und automatisiert, dass wir absolut nichts davon mitbekommen. Wir bekommen nur das Endprodukt mit. Bei meiner Kundin war es plötzlich ein (unsichtbares) Schild, dass um den Hals ihres Kunden hing und auf dem stand: ARROGANT!

Als wir gemeinsam diesen Prozess durchgegangen sind, sagte meine Kundin nach kurzem Nachdenken: Oh, ich packe also jemanden in eine Schublade und rege mich dann auf, dass er in dieser Schublade steckt.

Ja, genauso ist es. Wir etikettieren, wir füllen Laden, wir bewerten. Nur manchmal sind wir mit unserer eigenen Bewertung nicht zufrieden. Oder sie ängstigt uns. Oder macht uns wütend. Und dann hätten wir gerne, dass sich das Gegenüber oder die Situation so verändert, damit es nicht mehr bei uns diese negativen Gefühle produziert.

Nur wie soll sich jemand aus einer Schublade befreien, in die er sich selbst nie hineingesetzt hat?

Selbstbestimmt agieren

Schubladen-Denken ist für uns sehr schwer erkennbar, weil es so unfassbar schnell abläuft und zum größten Teil für uns unsichtbar ist. Aber es geht gar nicht darum, in Zukunft keine Schubladen mehr zu füllen. Wir sind nicht davor gefeit, dass unser Gehirn da sehr autonom agiert. Würde es dies nicht tun, wäre unser Alltag der reine Albtraum. Wir würden bei jedem Gegenstand, jedem Menschen, jeder Situation überlegen, was das ist, was das bedeuten könnte und was wir tun sollten. Wir würden nichts auf die Reihe bekommen. Somit ist dieser Automatismus notwendig und wichtig.

Aber es ist für unser eigenes Wohlbefinden essentiell, dass wir ihn erkennen und wissen, was hier abläuft.

Denn solange wir glauben, dass der Andere für unsere Gefühle verantwortlich ist, sind wir in einer hoffnungslosen Situation. Wir müssen darauf warten, dass sich unser Gegenüber verändert oder etwas tut, damit unser Problem gelöst ist.

Erkennen wir jedoch, dass wir selbst auf unser automatisiertes Schubladen-Denken hereingefallen sind, bringt das eine innere Ruhe mit sich. Und Wahlmöglichkeiten. Wir sind weder der Außenwelt noch unseren eigenen Denkmustern hilflos ausgeliefert. Wir können selbst entscheiden, ob wir den konditionierten Vorschlägen unseres Gehirns folgen oder doch lieber in eine andere Richtung gehen wollen.

Alles Liebe