Die Welt neu sehen, Silvia Chytil

Welcher Beifahrer bist du? Sitzt du ruhig daneben, schaust dir die Umgebung an und unterhältst dich mit dem Fahrer? Oder bremst du mit, sagst „da hättest du rechts abbiegen sollen“ und „Achtung, da vorne ist es rot“?

Ich gestehe, und mein Mann wird es bestätigen, ich verfalle immer wieder in die zweite Kategorie. Ich gebe als Beifahrerin sehr gerne meine Kommentare ab und bremse im Notfall auch schon mal mit. Aber ich gelobe Besserung. Ich verspreche es!

Denn, wenn der Beifahrer die Arbeit des Fahrers übernehmen möchte, wird es mühsam. Sowohl für den Fahrer, als auch für den Beifahrer. Viel angenehmer ist es, wenn der Beifahrer sich führen lässt, einfache, unterhaltsame Kommunikation führt und nur im Bedarfsfall unterstützend eingreift. Sich aber sonst ruhig im Hintergrund hält.

Der Fahrer muss in jedem einzelnen Moment agieren und reagieren. Gas geben, wenn er beschleunigen will, bremsen, wenn die Ampel auf Rot steht. Auf den Gegenverkehr achten und auch noch sein Ziel im Kopf behalten. Er tut das, was jetzt gerade notwendig ist.

Der Beifahrer kann nichts tun. Wenn er mitfährt, dann fährt er nur in Gedanken mit. Er kann zwar bremsen, tritt aber ins Leere. Er hat die Dinge nicht im Griff und das gefällt ihm gar nicht.

Dieses Spiel gibt es aber nicht nur im Auto, sondern spielt sich tagtäglich in uns ab. Der Fahrer würde uns gerne durchs Leben kutschieren, wäre da nicht immer der nervige Beifahrer, der ständig meint es besser zu wissen.

Fahrer und Beifahrer

Wer ist nun der Fahrer in unserem Leben? Und wer der Beifahrer?

Der Fahrer ist unser gesamtes menschliche System. Einfachheitshalber nenne ich den Fahrer das SELBST. Das SELBST arbeitet im Verborgenen, für uns unbewusst.

Es verarbeitet Millionen Bits pro Sekunde, steuert unsere Atmung, regelt den Blutdruck, nimmt äußere Sinnesreize auf und verarbeitet sie zu einem einheitlichen Bild für uns, erkennt Gesichter, die vor uns stehen, sagt uns, was wir noch alles einkaufen müssen, um das Abendessen kochen zu können, weckt uns in der Früh auf (mit oder ohne Wecker), koordiniert den Körper, wenn wir gehen oder die Kaffeetasse zum Mund führen wollen und tut noch vieles, vieles mehr, von dem wir nichts mitbekommen.

Es ist das unglaublich mächtige, einzigartige System, das in uns steckt und tagein, tagaus seine Arbeit verrichtet. Ohne Dank, Applaus oder Lob zu erwarten. Es tut einfach.

Der Beifahrer ist das, was wir im Normalfall als „ICH“ bezeichnen. Es ist das bewusste ICH. Es bekommt von der Welt nur das mit, was ihm das SELBST zur Verfügung stellt. Und das ist nicht sehr viel. Verarbeitet das gesamte System zwischen 20 und 40 Millionen Bits pro Sekunde, kommt in unser Bewusstsein gerade mal – und jetzt halte dich fest – 20 Bits.

Also stelle dir vor, du fährst 40 Kilometer mit dem Auto und bekommst davon nur 20 Millimeter bewusst mit. Das ist nicht sehr viel. Aber genau so läuft es in uns ab.

Unser bewusstes ICH bekommt nur einen Bruchteil von dem mit, sowohl was im Außen als auch in unserem Inneren passiert. Es ist nur der Passagier, der Beifahrer. Glaubt aber gerne, es wäre der Fahrer. Und hätte noch gerne Applaus für seine Leistung.

ICH stehe mir SELBST im Weg.

Ganz sicher hast du diesen Ausdruck schon oft verwendet. Du würdest gerne irgendetwas tun oder sein lassen, aber tust es trotzdem oder eben nicht. Darauf angesprochen sagen wir dann oft: Ich stehe mir selbst im Weg.

Nur wer steht da wem im Weg?

Das bewusste ICH (ich nenne es auch Gedanken-Ich) kann eigentlich nichts selbst tun. Denn auch, wenn ich mir denke, ich möchte jetzt aufstehen – wenn das gesamte System nicht mitspielt, dann wird das nichts mit dem Aufstehen.

Ich kann nicht gehen, weiß ja gar nicht wirklich wie das funktioniert. Ich kann die Berechnungen nicht anstellen, die notwendig sind, um einen Fuß vor den anderen zu tun, ohne hinzufallen.

Für uns ist das alles normal und selbstverständlich, aber wenn ein Teil unseres Körpers plötzlich nicht mehr funktioniert, wird uns erst bewusst, wieviel Anstrengung wirklich dafür notwendig ist, die einfachste Sache zu erledigen.

Nehmen wir einen anderen Fall: Ich liege krank im Bett. Das SELBST ist damit beschäftigt, mich wieder gesund zu machen, Bakterien und Viren aus dem Körper zu transportieren, meine Körpertemperatur zu stabilisieren.

Meinem bewussten ICH ist in der Zwischenzeit ziemlich langweilig. Das Einzige, was es tun kann, ist immer wieder auf dieselbe Wand zu starren, ein Buch zu lesen oder einen Film anzusehen.

Und es kann sich Gedanken machen. Was definitiv die Lieblingsbeschäftigung des ICHs ist. Da es ja sonst nichts tun kann, kann es sich zumindest sorgen. Und jammern und nörgeln. Und tut dies auch ständig: „Eigentlich kann ICH es mir gar nicht leisten, da faul im Bett zu liegen. ICH muss irgend etwas tun. Was, wenn ICH keine neuen Aufträge mehr bekomme. Dann lande ICH auf der Straße. ICH werde meine Miete nicht bezahlen können. ICH will nicht krank sein. ICH bin zu Nichts nutz. ICH werde den Anschluss verlieren.“ Alles dreht sich nur um ICH, ICH, ICH.

Während das SELBST damit beschäftigt ist, uns am Leben zu halten und uns eine Welt zu präsentieren, die so wunderbar bunt und vielfältig ist, sitzt das ICH in unserem Kopf und beklagt sich über das Wetter, das Essen, die Menschen, die Arbeit. Und je mehr sich dieses ICH in den Vordergrund spielt, umso schwieriger wird unser Leben und umso mehr stehen wir uns im Weg.

Beobachten wir Menschen auf der Bühne, dann erkennen wir sofort, wer gerade am Steuer sitzt. Das bewusste ICH ist vor allem auf sich konzentriert. Bin ich gut? Mache ich einen Fehler? Was denken die Leute über mich? Für uns als Zuschauer wirkt so eine Vorstellung unauthentisch, langweilig, verklemmt, hölzern. Wir merken, dass der Schauspieler oder Vortragende nicht bei der Sache ist.

Sind wir jedoch ganz wir selbst, dann denken wir nicht über uns nach, über den Applaus, über das Lob. Wir SIND einfach. Jede Bewegung, jedes Wort, jede Aktion ist fließend, authentisch, leicht. Wir wissen ganz genau, was als Nächstes zu tun ist, wir treten in Kontakt mit anderen Menschen, können alles aus uns herausholen und sind zu Höchstleistungen fähig. Für uns als Zuschauer wirkt so eine Vorstellung leicht, lebendig, fließend, sie zieht uns in den Bann, sie berührt uns. Und auch wenn sich der Vortragende versprechen sollte – egal, es ist menschlich und das spricht uns an.

SELBST zu sein, erfordert Mut

Ganz SELBST zu sein erfordert jedoch etwas Mut. Da das ICH so fest davon überzeugt ist, Meister über alle Dinge zu sein, gesteht es sich nur ungern ein, dass dem nicht so ist. Es möchte gerne alles kontrollieren und vorhersehen können und greift deshalb immer wieder ins Lenkrad.

Wir können aber erkennen, dass der eigentliche und viel bessere Fahrer in unserem Leben das SELBST, das ganze menschliche System, ist. Da ist zwar viel im Verborgenen, viel läuft ab, ohne, dass wir es mitbekommen, was im ersten Schritt vielleicht Angst machen könnte.

Aber sobald wir den Mut aufbringen die Hände vom Lenkrad zu nehmen und uns durchs Leben führen zu lassen, dann werden wir „ganz wir selbst“. Dann stehen wir uns selbst nicht mehr im Weg und können das Leben auf dem Beifahrersitz in vollen Zügen genießen. Dann erleben wir die Wunder dieser Erde, wir sind unser bestes Ich, sind produktiv, kreativ, effektiv und dazu noch zufrieden und ausgeglichen. Alles fühlt sich leicht, authentisch, natürlich an.

Alles kontrollieren zu wollen, obwohl wir das eigentlich gar nicht können, macht das Leben schwer und anstrengend. Wenn wir aber das Leben annehmen können, so wie es sich vor uns entfaltet, dann stehen wir mitten im Leben. Dann entfaltet es sich vor uns in seiner ganzen Pracht und dann haben wir wirklich das Gefühl, das Steuer in der Hand zu haben.

Alles Liebe