Entscheidungen bewusst treffen, Silvia Chytil

Kennst du Bob? Bob lebte jahrelang in meinem Kopf, setzte meistens ein strenges Gesicht auf, trug eine randlose Brille auf der Nase und schaute grimmig aus der Wäsche. Sein Blick wanderte unentwegt hin und her, prüfend, ob seine Welt in Ordnung sei. Meistens war sie das nicht. Er fand immer irgendwas zu bemängeln. Der/die macht das nicht richtig. Das hätte anders sein sollen. So funktioniert das doch nie. Warum sind die Anderen alle so unfähig?

Aber sein kritischer Geist nörgelte nicht nur an anderen Menschen und Situationen herum, sondern auch an mir. Und das mit Vorliebe und Begeisterung: „Du machst das nicht richtig. Das hättest du besser oder anders machen sollen. Kapierst du das nie. Aus dir wird nie etwas. Das schaffst du nie.“ Wobei das jetzt nur die harmlosen Bemerkungen von Bob sind. Manchmal konnte er wirklich gemein sein und Ausdrücke verwenden, die einem die Schamröte ins Gesicht treiben ließ.

Bob war kein Schlechter und meinte es auch wirklich gut. Vermutlich. Bob hatte nur ein einziges, wirkliches Problem: Er hatte keine Ahnung von der Welt da draußen. Er sah nichts, hörte nichts und konnte auch nicht sprechen. Also nicht laut. Er war dazu verdammt, im dunklen Kämmerchen in meinem Kopf zu sitzen.

Bob störte das nicht. Ganz im Gegenteil. Er hatte es sich in seinem Kämmerchen fein eingerichtet, gemütlich gemacht und sah den ganzen Tag fern. Und das, was er sah, kommentierte er in einem fort. Mal lauter, mal leiser. Aber eigentlich musste er zu allem und jedem seinen Senf dazu geben.

Mit wem spricht Bob eigentlich?

Früher dachte ich ja, er spricht zu mir und kommentiert das, was da draußen in der Welt passiert. Da er auch überaus heftig werden konnte und sich das sehr unangenehm anfühlte, bemühte ich mich, ihn zufriedenzustellen und versuchte seinen Anforderungen gerecht zu werden. Wollte er mich draufgängerischer, ging ich Risiken ein. Sollte ich seriöser sein, stellte ich all meine Professionalität zur Schau. Meinte er, ich wäre zu langsam, gab ich Gas. Machte ich in seinen Augen zu wenig, machte ich einfach mehr.

Am Abend, nach einem langen, anstrengenden Tag, erhoffte ich mir Lob von ihm. Das kam aber kaum vor. Eigentlich nie. Sein wachsames Auge konnte man nämlich nicht täuschen. Jedes noch so kleine Detail, das nicht passte, sprang ihm sofort ins Auge. Und an seinen Erkenntnissen ließ er mich ungefiltert teilhaben. Machte mir lautstark klar, dass das wieder nichts war. Dass ich mich mehr anstrengen müsse, dass ich in der Welt nicht bestehen könne, wenn ich mich weiterhin so faul, unprofessionell, unfähig und vieles mehr (oder eher wenig), präsentierte.

Irgendwann war ich außer Puste. Vom schneller, besser, anders machen und sein. Und fragte ihn direkt: „Sag mal, bist du eigentlich nie zufrieden“. Aber ich bekam keine Antwort. Ich versuchte es noch einmal und noch einmal. Keine Antwort. Er quatschte einfach weiter, kritisierte, bemängelte, fluchte, kommentierte. Zog alte Geschichten aus dem Hut, malte düstere Zukunften und schlug fassungslos die Hände über den Kopf zusammen.

Ich war sehr verblüfft über seine Ignoranz. Er sprach zwar die ganze Zeit zu mir, aber wenn ich ihn etwas fragte, dann erhielt ich keine Antwort. Zumindest keine zufriedenstellende.

Und plötzlich dämmerte es mir. Vielleicht ist es gar kein Dialog, sondern ein Monolog. Vielleicht spricht er weniger zu mir als zu und mit sich selbst.

Und vielleicht kommentiert er gar nicht das, was in meiner Welt da draußen passierte, sondern das, was er im Fernseher sah. Vielleicht gar nicht das, was ich tat (oder nicht tat), sondern das, was die Schauspieler*innen im Film zum Besten gaben.

Konnte das tatsächlich möglich sein???

Und plötzlich war es still

Ich probierte es aus. Das nächste Mal, als er wieder vor sich hin lamentierte, ignorierte ich ihn einfach. Ok, das klappte nicht auf Anhieb gut. Er wurde lauter und lauter. Ich fühlte mich elendig. Wie ein ungezogenes Kind, das nicht auf die Anweisungen seiner Eltern hörte.

Er benötigte also doch ein Publikum, stellte ich fest. Was würde passieren, wenn ich ihm dieses entziehe, wunderte ich mich und blieb standhaft. Ich tat, was ich zu tun hatte und ließ mich von seinen Zurufen nicht weiter stören.

Nach einer Weile wurde es stiller. Dumpfer, er war nur noch aus weiter Entfernung zu hören. Schmollend saß er in seinem Eck und brummte vor sich hin „Du wirst schon sehen, was aus dir wird“ zischte er. „Du glaubst, du brauchst mich nicht und kommst alleine in der Welt zurück. Na ja, wenn du meinst. Aber komm´ ja nicht heulend zu mir gekrochen, wenn du Bauchlinks auf die Erde knallst. Ich helfe dir nicht mehr aus der Patsche. Das ist der Dank. Da macht man alles für die Menschenkinder, kümmert sich um sie, sorgt sich, navigiert sie sicher durchs Leben. Und was ist der Dank? Sie ignorieren uns einfach! Aber nicht mit mir. Ich gehe. Ich bin hier scheinbar unerwünscht. Also ziehe ich davon.“

Und tatsächlich. Er packte seinen Kram und zog ab. Widerwillig. Beleidigt. Fluchend. Dann wieder schmeichelnd. Er meine es nur gut und möchte mich beschützen. Er ist derjenige, der hinter mir steht, meinte er. (Meistens jedoch vor oder auf mir – das hatte er nicht erwähnt.) Er möchte mich nicht verlassen, dann wäre ich ganz alleine auf der Welt. Er hätte mich unheimlich lieb und gelobe Besserung.

Von mir jedoch bekam er nur die kalte Schulter. Als ich über diese verstohlen blickte, sah ich ihn davon marschieren. Seine Siebensachen zu einem Knäuel zusammengepackt, mit hängendem Kopf, schlurfte er davon. Fast konnte er einem leidtun.

Aber ich war mir sicher, es würde nicht lange dauern und er findet ein anderes Menschenkind, dass er bewohnen kann. In dem er es sich gemütlich einrichten und tagein, tagaus ungefragt Kommentare von sich geben wird. Einmal noch schaute er zurück, winkte traurig, dann war er verschwunden.

Diese Ruhe, dachte ich mir. Diese Stille. Wie herrlich. Was für ein Geschenk.
Kein Geplapper. Kein Gemurre. Keine Besserwisserei.

Denke ich noch manchmal an Bob? Ja manchmal. Immerhin hat er den Großteil meines Lebens bei mir gewohnt. Diese Stille war manchmal unheimlich, auch ich musste mich erst daran gewöhnen.

Ich habe auch das Gefühl, dass er hin und wieder an meine Tür klopft. Vielleicht ist der andere Menschenkopf doch nicht so gemütlich, wie meiner. Oder das andere Menschenkind ist nicht ganz so willig, all seine Tiraden auszuhalten, wie ich es jahrelang war.

Vielleicht ist es aber auch nur Gewohnheit. Wie bei einem alten Liebespaar, das sich zwar noch hin und wieder gegenseitig anruft, aber eigentlich nichts mehr zu sagen hat.

Ich wünsche Bob von Herzen alles Gute, unsere gemeinsame Zeit ist jedoch vorbei.