Eigentlich begann dieser Tag ganz normal. Ich hatte mich von meinen drei netten Mitbewohnern verabschiedet und bin Richtung Viana do Costelo gegangen. Lange konnte ich mich nicht entscheiden, welchen Weg ich nehmen sollte, denn es führten zwei in diese kleine Stadt. Einerseits der Küstenweg, entlang des Meeres bei strahlend blauem Himmel. Allerdings soll dieser Weg nicht sehr gut beschrieben, also eher unsicher sein – so sagte es der Reiseführer. Andererseits durch das Landesinnere, zwar etwas auf und ab, aber wunderschön durch Wälder und Felder und hervorragend beschildert.
Nun, dachte ich mir, ich habe ein Handy, darauf ist ein Navi – also gehe ich den Küstenweg, ich werde den richtigen Weg schon finden.
Welch´ eine Fehleinschätzung!
Die ersten 9 km gingen ausgezeichnet. Ich fühlte mich wohl, das Wetter war traumhaft und meine Schulter und der Rucksack hatten sich in der Zwischenzeit arrangiert. Zwar noch keine Einheit geworden, aber doch herrschte eine gegenseitige Akzeptanz. Somit war das Gehen keine wirkliche Qual mehr.
Zu Mittag fand ich ein nettes kleines Café, in dem ich mich mit frischen Getränken und einer herzhaften Pizza bereit für die Nachmittagswanderung machte.
Laut meiner App führte der Weg die ersten paar Meter noch am Meer vorbei, um dann in einem Wald zu münden, der etwas Abkühlung versprach. Ich ging so lange am Wasser entlang, bis der Weg ein plötzliches Ende nahm und ich weit und breit keinen Pfeil für die richtige Richtung fand. Ich sah zwar den Weg in meiner App, allerdings nicht in der Realität. Auch fand ich den Wald, allerdings keinen Eingang.
Ich marschierte ein wenig der Straße entlang, ca. 200 Meter, um dann auf der anderen Seite des Waldes zu stehen.
„Dann gehe ich einfach durch den Wald durch, bis ich zum richtigen Weg komme, so weit kann das ja nicht sein“, dachte ich. Und stapfte los. Hinein in den Wald, der weniger ein Wald, als mehr ein Urwald mit dichtem Unterholz und Gestrüpp war. Als Orientierung nahm ich mein Navi, auf dem ich den eigentlichen Weg erkennen konnte.
Je tiefer ich in den Wald ging, umso dichter wurde er. Teilweise glaubte ich keinen Schritt mehr vor- oder zurückgehen zu können. Ich drehte aber auch nicht um, weil ich ja den Weg sehr nahe vermutete. Außerdem gibt es auf dem Jakobsweg einen Leitsatz: Niemals zurück, immer voraus.
Also kämpfte ich mich durchs Unterholz, immer tiefer hinein. Mittlerweile waren bereits über eine Stunde vergangen, aber ich gab nicht auf. Nach zwei Stunden kontaktierte ich zum ersten Mal meinen Mann, der nahm es zu diesem Zeitpunkt recht locker, wusste er doch, dass mich manchmal mein Orientierungssinn im Stich lässt. Später erzählte er mir, dass er meine ersten Bemerkungen, dass ich mich verirrt hätte, tatsächlich nicht ernst nahm, denn immerhin „verirrst du dich sogar in einer Telefonzelle“ (Original-Ton).
Nach drei Stunden deutete ich ihm an, dass ich tatsächlich „lost“ im Wald war, mein Akku vom Handy nur noch 9 % aufwies und ich daher mein Telefon immer wieder ausschalten musste. Das war wohl der Moment, als auch er den Ernst der Lage erkannte. Zumindest begann er auf seiner Seite der Welt nach Hilfe zu forschen, falls ich sie tatsächlich benötigen sollte.
Überraschend war, dass in mir nie wirklich Panik auftrat. Es kam schon manchmal das Gefühl der Verzweiflung und Hilflosigkeit auf, vor allem, wenn ich überhaupt nicht sah, wohin ich meinen nächsten Schritt tun sollte. Aber irgendwie war es für mich unvorstellbar, dass ich aus diesem Wald nicht mehr herausfinden sollte. So groß war er nun auch wieder nicht.
Der beinahe leere Akku war letztendlich meine Rettung. Denn anstatt mich weiter auf das technische Hilfsmittel zu verlassen, dass mich offensichtlich im Kreis schickte, begann ich auf mich zu hören. Was ist zu tun? Wie komme ich da am besten wieder raus? In welche Richtung soll ich gehen?
„Geh zum Meer. Geh immer weiter zum Meer!“ hallte es in mir. Also boxte ich mich durch das Gestrüpp, durch Dornenbüsche, maroden Sträuchern und hohen Bäumen. Immer weiter Richtung Meer, dass ich zwar hören, aber nicht sehen konnte.
Nach beinahe vier Stunden auf Irrwegen lichtete sich endlich der Wald und ich stand auf einem Weg. Und vor mir das Meer. Erschöpft und voller Kratzer am ganzen Körper, aber froh und dankbar, dass ich aus diesem Labyrinth heil herausgekommen war, nahm ich einen tiefen Atemzug und ging zurück zum Café, dass ich zu Mittag verlassen hatte. Ein kühles, erfrischendes Bier war fällig.
Sicherheit ist ein Sterben auf Raten
Am Abend, als ich endlich in meinem wunderschönen Hotelzimmer angekommen war, eine heiße Dusche genossen und meine Wunden versorgt hatte, ließ ich diesen, sehr aufregenden, Tag Revue passieren.
Hätte ich auf diese Erfahrung verzichten wollen? Hätte ich den sicheren Weg gehen sollen? War ich zu leichtsinnig?
Nein, war die ganz klare Antwort. Denn es war mein erstes, wirkliches Abenteuer seit Jahren. Vielleicht seit Jahrzehnten. Ich habe mich aus meiner Komfortzone gewagt, habe die Sicherheit hinter mir gelassen und mich zwar verlaufen – aber schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt.
Sicherheit ist in unserer Gesellschaft mittlerweile zum wichtigsten Gut geworden. Wir leben in einer sicheren Umgebung, haben einen sicheren Job, schnallen uns im Auto an, tragen einen Sturzhelm beim Radfahren. Wir treffen immer dieselben Leute, haben einen eingespielten Tagesablauf, verlassen kaum unsere Routinen. Alles ist auf Sicherheit gepolt.
Es ist auch nichts gegen Sicherheit einzuwenden. Allerdings ist dieses Sicherheits-Denken mittlerweile zu einer Fessel geworden, die wir kaum mehr ablegen. Die uns einengt und unsere Welt immer kleiner macht.
So viele Menschen haben Angst vor Fehler oder etwas Falsches zu tun. Also bleiben sie auf der sicheren Seite. Bleiben in einem Job, der sie nicht begeistert, bleiben in einer Beziehung, die sie nicht erfüllt, wagen keinen Schritt mehr abseits eingefahrener Wege. Sie verdrängen ihre Wünsche und Ziele in ein dunkles Eck in ihrem Inneren, weil sie so sehr Angst vor Neuem und Unvorhergesehenem haben.
Den Preis, den sie jedoch für diese (scheinbare) Sicherheit zahlen, ist ein großer. Ihre Träume bleiben unerfüllt, sie kosten das Leben nicht in vollen Zügen aus und wundern sich dann, warum ihr Leben langweilig verläuft und sie sich unzufrieden und eingeengt fühlen.
Sydney Banks sagte einmal „Leben ist ein Kontaktsport.“ Und ja, das ist es. Ein Kontaktsport mit anderen Menschen und manchmal auch der Kontakt mit dichtem Gestrüpp. Ja, da können Schrammen überbleiben, manchmal nur oberflächliche, manchmal vielleicht auch eine Narbe, die wir unser ganzes Leben mit uns tragen.
Aber deshalb dieses Risiko nicht mehr einzugehen, ist ein Sterben auf Raten.
Der Jakobsweg bisher und dieses Abenteuer im Wald im Speziellen haben mir gezeigt, dass wir zu so viel mehr fähig sind, als wir uns in unserem eingeschränkten Verstand vorstellen können. Wir können Gewicht auf den Schultern tragen, ohne zusammenzubrechen. Wir können Kilometer weit gehen, ohne zu wissen, wann und wo wir das nächste Mal Essen bekommen oder schlafen werden. Wir können mit fremden Menschen Verbindung aufbauen und diese loslassen, wenn die Zeit dafür reif ist. Wir können darauf vertrauen, dass wir den richtigen Weg finden werden oder dass uns jemand zur Seite steht und uns Hilfe anbietet, wenn wir diese benötigen.
Einzig und allein der Verstand, der sich gerne in Sicherheit wiegt, macht uns glauben, dass wir zu all dem nicht fähig sind. Aber Leben braucht keine Sicherheit. Leben geht Risiken ein, es probiert aus und verwirft auch wieder, wenn sich etwas als nicht lebensfähig erweist.
Die Entscheidung liegt bei uns. Wollen wir dem Verstand Sicherheit geben und uns von ihm einengen lassen? Oder wollen wir das Leben, mit all seinen Aufs und Abs, all seinen Wundern, Möglichkeiten, Abenteuern und auch Kratzern, Fehlern und Scheitern, auskosten und es mit jeder Faser unseres Daseins genießen?
Liebe Silvia, mit viel Erstaunen, aber auch Bewunderung habe ich deine Schilderung über deinen Jakobsweg gelesen. Nie hätte ich mir gedacht, dass du solche Abenteuer gehst. Während unserer Ausbildung empfand ich dich als besonders Sicherheitsdenkende. Umso mehr bewundere ich jetzt deinen Mut und fühle mich selbst bestärkt in meinem Wegen, die für andere Menschen so abwegig erscheinen. Buen Camino Bärbel
Liebe Bärbel,
danke für deinen Kommentar ❤️.
Ja, da hat sich einiges in den letzten Jahren bei mir verändert – und dafür bin ich unglaublich dankbar.
Wenn wir unseren eigenen Weg gehen, führt das oft bei anderen Menschen zu Erstaunen. Bin aber davon überzeugt, dass es der einzige Weg zu unserem Glück ist.
Alles Liebe
Silvia
Was für eine wunderbare Geschichte. Den Weg durch den dichten Wald zu finden ist ja auch eine schöne Metapher. Manchmal denken wir, es geht nicht mehr weiter. Aber es geht immer weiter. Am besten gefällt mir der Teil, wo du das Navi des Handys beiseite legst und auf die innere Führung lauschst. Da höre ich so viel raus. Wie oft verlassen wir uns auf die Ansagen im Außen, obwohl sie uns doch ganz offensichtlich im Kreis führen? Wir dürfen uns selbst vertrauen, auf uns hören und uns von innen führen lassen.
Danke, dass du diesen Tag mit uns teilst, und danke für die sehr berührende Schlussfolgerung – Sicherheit ist ein Sterben auf Raten. Ja, das ist so wahr. Danke,
Bettina
Hallo liebe Bettina,
so schön, dass du in der Geschichte die Metapher „dichten Wald“ gesehen hast. Das hatte ich davor noch gar nicht – danke dafür ❤️.
Ja, wieder zu lernen, auf uns selbst zu hören, ist definitiv eine Wohltat und macht unser Leben so viel besser.
Ich wünsche dir alles Liebe.
Silvia