Glaubenssätze auflösen

Oh – es war so traumhaft. Der knisternde Schnee unter den Füßen. Die kalte Winterluft. Die Sonne, die auch um diese Jahreszeit enorme Kraft entwickelte. Der Hund, der unablässig unsichtbare Spuren am Weg erschnüffelte. Mein Atem, der mal schneller und mal langsamer ging.

Mein Mann und ich haben uns am Mittwoch zu einer Schneewanderung entschlossen. In der Früh schnell den passenden Ort ausgesucht, ein paar Snacks eingepackt und los ging´s.

Bevor ich jedoch diesen Ausflug in vollen Zügen genießen konnte, hatte ich zuerst einen inneren Kampf auszustehen.

Denn beim Wegfahren im Auto spürte ich ein komisches Gefühl in mir. Dieses Gefühl taucht immer wieder mal in mir auf. Mal stärker, mal schwächer. Früher öfters, heute nur noch hin und wieder. An diesem Tag war es wieder mal so weit. Wenn ich es beschreiben würde, würde ich es als: „Du machst was falsch- Gefühl“ betiteln.

Nur woher kam es und warum?

Eingeschränkter Bewegungs-Radius

Während der 1-stündigen Fahrt tauchte ich tiefer in mich hinein und überlegte, welche Gedanken in mir dieses Gefühl erzeugten?

Da blitzten dann so Fragen auf, wie:

  1. Darfst du an einem Mittwoch einen Ausflug machen?
  2. Was, wenn wichtige Mails kommen? (ich erhalte auf meinem Handy keine E-Mails.)
  3. Solltest du nicht lieber etwas für dein Webinar, deine Sonntags-Post, deine Gruppen-Termine, deine Coachings vorbereiten?

Mein Terminkalender an diesem Tag war leer, alle anderen Projekte und Aufgaben waren nicht so dringend, dass ich sie unbedingt an diesem Tag erledigen musste. Wichtige E-Mails hatten auch Zeit bis am Abend. Das alles wusste ich und trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen.

Während ich tiefer in mich hineinhörte hatte ich eine große Einsicht: Diese „Du-solltest-doch-Gedanken“ und das dazugehörige „schlechtes-Gewissen-Gefühl“ hielten mich in der Vergangenheit oft davon ab, das zu tun, was ich gerne tun wollte. Mich mit anderen Leuten treffen (vor Corona bzw. soweit es Corona zulässt). Ein Buch lesen, das nichts mit meinem Business zu tun hat. Texte schreiben, die nicht zu meinem Spezialthema zählen.

Jetzt ist es nicht so, dass ich zu Hause den ganzen Tag arbeite. Aber doch beschäftige ich mich den Großteil meiner Zeit mit meinem Business: Checke meine E-Mails, treibe mich auf diverse Social-Media Kanälen herum, konsumiere Audios, Videos, Bücher, die mit meinem Fachbereich zu tun haben, formuliere in Gedanken eigene Texte. Also den ganzen Tag damit beschäftigt und jederzeit erreichbar.

Bis Mittwoch war mir gar nicht bewusst, dass ich noch immer so sehr mit meinem Business verwoben bin. Ich habe in den letzten Jahren meine Arbeitszeit radikal gekürzt und sitze vor meinem PC tatsächlich nur noch, wenn ich etwas zu erledigen habe.

Was mir jedoch nicht bewusst war, dass ich mich von meinem Business kaum wegbewegte. Die Angst, ich würde etwas Wichtiges übersehen oder es würde etwas Schlimmes passieren, wenn ich nicht immer anwesend war, war tief verwurzelt.

In manchen Kreisen nennt man diese Angst wohl FOMO: Fear of missing out. Also die Angst, etwas zu versäumen. Das ist das Phänomen, das Menschen ständig auf ihr Handy schauen lässt, denn es könnte eine wichtige Nachricht dabei sein. Was, wenn wir genauer drauf schauen, selten der Fall ist.

Bei mir war es wohl eher die Angst, etwas falsch zu machen und einen Fehler zu begehen, der verheerende Folgen haben könnte.

Was zur Folge hatte, dass sich mein Bewegungs-Radius enorm einschränkte. Es war als, ob ich an einem unsichtbaren Seil hing, dass mich nur ja nicht zu weit von meinem Business wegdriften ließ.

Meine Angst war als Freude getarnt

Das Spannende aber war, dass sich diese Angst nicht klar und deutlich zeigte. Ganz im Gegenteil. Sie tarnte sich als Freude. Sie war wie ein Chamäleon. Anstatt sich wirklich zu zeigen: „Hey, ich habe Angst einen Fehler zu machen“ sagte sie: „Komm bleib zu Hause, du liebst doch so, was du tust, beschäftige dich noch mehr damit. Und damit bist du auf der sicheren Seite, falls etwas passieren sollte.“

Und ja, es stimmt. Ich liebe, was ich tue und könnte mir nichts anderes vorstellen. Nur damit konnte sie mich fangen. Denn hätte ich ständig die Angst gespürt, dann wäre es mir unangenehm gewesen und ich wäre stutzig geworden. Aber so – mit der Freude, ließ ich mich gerne einfangen. Also blieb ich zu Hause, in oder in der Nähe meines Büros, sodass ich jederzeit reagieren konnte, falls etwas auftauchen sollte.

Der angekettete Elefant

Als ich das erkannte, fiel mir eine Geschichte von Jorge Bucay ein: Der angekettete Elefant.

Als kleiner Junge war Jorge Bucay vollkommen vom Zirkus fasziniert. Vor allem von den Tieren und unter ihnen am liebsten den Elefanten. Während der Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier sein ungeheures Gewicht, seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur Schau. Nach der Vorstellung aber und auch in der Zeit bis kurz vor seinem Auftritt blieb der Elefant immer am Fuß an einen kleinen Pflock angekettet. Der Pflock war allerdings nichts weiter als ein winziges Stück Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwer war, stand ganz außer Zweifel, dass ein Tier, das die Kraft hatte, einen Baum mitsamt der Wurzel auszureißen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflock befreien und fliehen konnte. Nur – Was hält ihn zurück? Warum macht er sich nicht auf und davon?

Diese Frage beschäftigte Jorge Bucay viele Jahre und er fand keine Antwort. Bis eines Tages jemand die Antwort auf diese Frage hatte: Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühester Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist.

Ganz sicher hatte der kleine Elefant versucht sich zu befreien. Hat gezogen und gezerrt. Nur damals war der Pflock tief in der Erde versunken und somit hatte der kleine Elefant natürlich keine Chance. Irgendwann hatte das Tier wohl den Versuch aufgegeben und gelernt, dass er sich nicht wegbewegen kann, wenn er mit einem Seil an einem Pflock hängt. Er hat es wohl auch nie wieder hinterfragt oder ausprobiert. Somit reicht es heute ihn an einen kleinen Pflock zu hängen, wissend er wird gar nicht erst versuchen, sich zu befreien.

An welchem Seil hängst du noch?

Vermutlich hängen wir alle an einem Seil, dass uns in Kinderjahren angebunden wurde. Sicher ohne schlechte Absicht, sondern eher, um uns zu beschützen oder uns auf die große, weite Welt vorzubereiten.

Und manche dieser Seile haben wir im Laufe des Erwachsen-Werdens auch wieder abgestreift oder haben erkannt, dass der Pflock gar nicht mehr so tief in der Erde steckt, wie wir vermuteten.

Dann aber gibt es jene Seile, von denen wir immer noch glauben, dass sie da sind. „Ich kann das nicht. Ich darf das nicht. Ich muss doch. Ich sollte doch.“ Wir halten uns klein, wir verringern unseren Bewegungs-Radius, wir kapitulieren vor neuen Aufgaben. Wir tun nicht und probieren gar nicht aus, weil es früher ja auch nicht geklappt hat.

Wir sind geprägt von Erinnerungen an eine Person, die es früher mal gab. Von Regeln, die vielleicht mal sinnvoll waren. Von fremden Gedanken, die wir von Eltern oder anderen Erwachsenen übernommen haben. Und wir haben aufgehört zu hinterfragen oder auszuprobieren.

Wir haben uns daran gewöhnt und sagen „Ja, das gehört so“. Vielleicht reden wir es uns in Gedanken sogar schön und glauben, wir machen es aus Liebe zu einer Sache oder einer Person. So, wie ich dachte, ich beschäftige mich die ganze Zeit mit meinem Business aus Liebe zu ihm.

Nur irgendwann stellen wir fest, dass wir uns im Gegenzug andere Sachen verbieten. „Das darf ich nicht/das macht man nicht.“ „Dazu habe ich keine Zeit/Energie.“ „Das hat früher schon nicht geklappt, das versuche ich gar nicht.“ All diese Sätze sind Hinweise, dass wir an einem Pfosten angekettet sind. Und ja, vielleicht ist der Pfosten sehr tief in der Erde verankert und es gibt keine Chance sich davon zu befreien. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hängt das Seil lose in der Luft und wir müssten nur einen Schritt tun. Wenn wir es nicht versuchen, werden wir es nie erfahren.

Ich habe gestern eines meiner unsichtbaren Seile gelöst.

An welchem Seil hängst du noch dran?