Manchmal wollen wir, tun aber nicht. Und manchmal tun wir, wollen aber nicht. Wie Wollen und Tun zusammenhängt und was das mit einer Nacht am Flughafen zu tun hat, zeige ich dir hier.
Vor zwei Wochen war ich mit meiner Quasi-Schwiegertochter Julia (also der Freundin meines Sohnes Lukas) in Brighton. Sie beginnt dort im September ein Aufbau-Studium und gemeinsam erkundigten wir die Lage und machten uns auf die Suche nach einer passenden Unterkunft für sie. Zwar wurden wir nicht so fündig, wie wir es uns erhofften, wir hatten aber drei ganz wunderbare und lustige Tage zusammen.
Am Donnerstagabend traten wir den Weg von Brighton nach Gatwick an, da Julia bereits freitagmorgens einen Flug nach München hatte und ich am Freitag Abend nach Wien zurückflog. Zumindest war das der Plan. Denn als ich beim Gate auf meinen Flug wartete, kam die überraschende Auskunft, der Flug wurde storniert. Mein erster Gedanke: Na super, das brauch´ ich gar nicht!
Die nächsten zwei Stunden wurden alle Leidtragenden von einem Platz zum anderen geschickt, nur um letztendlich einen Zettel in der Hand zu halten, auf dem geschrieben stand, welche rechtlichen Schritte wir im Falle einer Stornierung einleiten können.
Da stand ich nun. Müde, enttäuscht, überfordert, hilflos. Ich wusste nicht, wann ich die Heimreise antreten konnte und wo ich die Nacht verbringen sollte. Das Ende meiner wunderbaren Englandreise hatte ich mir definitiv anders vorgestellt.
Eine Stunde später war zwar klar, dass ich erst am Sonntag nach Hause fliegen würde, komplett offen war allerdings wo ich die Nacht verbringen sollte. Mittlerweile war es 22 Uhr, alle Hotels in der Umgebung waren ausgebucht und London war eine Stunde entfernt und auch ziemlich voll.
Was nun?
Während ich unendlich lang am Telefon hing, Hotels anrief, in der Halle herumlief, mit Menschen am Flughafen redete, mir was zu essen und trinken besorgte, möchte ich dir hier erzählen, was sich in mir drinnen abspielte. Denn in mir hatte ich zwei Kräfte beobachtet, die ich so klar bisher noch nie wahrgenommen habe.
Da war einerseits eine Stimme in mir, die ständig vor sich hinplapperte und immer wieder in Panik verfiel: Warum sind die alle so unfähig? Warum gerade mir? Wo soll ich heute schlafen? Das ist wieder einmal typisch! Warum hast du diesen Flug genommen? Da gibt es sicher irgendwo ein Zimmer, die wollen es nur mir nicht geben! Ich bin so arm! Eine Nacht ohne Schlaf überstehe ich nicht! Warum tut denn keiner was! Ich will SOFORT nach Hause fliegen? Wer zahlt mir die ganzen Unkosten? HILFEEEE!!!
Und dann war da noch etwas: ES behielt den Überblick und die Ruhe. ES telefonierte mit Wien, mit Hotels. Besorgte essen und trinken. Setzte mich auf einen Stuhl, um durchzuatmen. Manövrierte mich durch den Flughafen, klapperte Hotels in der Nähe ab. Erfragte beim Flughafen-Personal alle möglichen Optionen und traf letztendlich die Entscheidung: Diese Nacht wird am Flughafen übernachtet.
Während der Verstand ständig neue Fragen aufwarf und immer wieder mal hyperventilierte, behielt ES die Ruhe, tat, was zu tun ist und traf Entscheidungen, wenn welche zu treffen waren. Ruhig, souverän, mit Überblick und Klarsicht.
Wer will und wer tut?
Im Normalfall machen wir zwischen unserer plappernden Stimme und dem, der tatsächlich handelt, keinen Unterschied. Wir glauben es wäre ein und dasselbe. Ist es im Prinzip ja auch, denn alles ist ein Teil von uns.
Es lohnt sich aber, die unterschiedlichen Kräfte in uns zu entwirren und näher unter die Lupe zu nehmen, denn es verrät uns eine ganze Menge über uns Menschen und wie wir funktionieren.
1. Der Woller
Die Stimme, der Verstand, das Ego – wie immer du es nennen möchtest, ist der Teil in uns, der immer etwas will oder auch nicht will. Auf alle Fälle ist es so, wie es gerade ist, nicht in Ordnung. Du solltest mehr tun, du solltest es anders tun, du musst noch dieses und musst noch jenes tun. Du solltest dich mehr anstrengen, du bist nicht gut genug. Du musst besser und anders werden.
Hier in diesem Artikel habe ich mich für den Begriff „Verstand“ entschieden. Der Verstand hat immer wahnsinnige gute Tipps und Ratschläge parat. Weiß alles ganz genau, für uns selbst und auch für die Anderen. Stellt sich als Allmächtiger dar, möchte überall seinen Senf dazugeben und hätte am liebsten, dass alles und alle nach seiner Pfeife tanzen.
Aber: Der Verstand kann nicht wirklich etwas tun. Zumindest nicht in der Außenwelt.
Versuche es selbst: Denke dir, dass du jetzt den Arm hebst. Du wirst feststellen, dass der Gedanke alleine dazu nicht ausreicht. Nur weil ich mir denke, dass ich jetzt den Arm heben soll, heißt das noch lange nicht, dass der Arm tatsächlich gehoben wird.
Allerdings hat der Verstand eine viel größere Macht. Er kann in uns wirken. Er kann Gefühle und Körperempfindungen konstruieren.
Probiere es aus: Denke an irgendetwas, wovor du dich fürchtest oder ekelst: Spinnen, Ratten, Schlangen, mit dem Flugzeug fliegen, Auftritt vor vielen Menschen, kein Geld auf der Bank, alleine und einsam im Alter, ausgelacht werden, Krankheit, Tod.
An was auch immer du gerade gedacht hast, du wirst feststellen, dass nur der Gedanke alleine dir bereits ein unangenehmes Gefühl verursachen kann.
Der Verstand kann zwar ein Horrorszenario in unserem Kopf abspielen und uns dabei Gänsehaut und Magenschmerzen verursachen, bei dem Gedanken eine Nacht am Flughafen verbringen zu müssen. ABER: Er kann kein Hotel anrufen.
2. Der Tuer
Wer also tut?
Wenn ich an die Nacht am Flughafen zurückdenke, dann neige ich tatsächlich zu sagen, ES hat getan. Ich habe nicht über die einzelnen Schritte nachgedacht, ich habe einfach getan, was als nächstes offensichtlich vor mir lag. Meinen Mann angerufen, mit ihm die Lage besprochen, Hotels kontaktiert, die Lage vor Ort inspiziert. Ich hatte keinen Plan, ich habe nicht nachgedacht, ich habe einfach getan. Es ist passiert.
Wenn wir darüber nachdenken, dass ES etwas tut, dann regt sich im Normalfall ein innerer Widerstand in uns. Wer tut da? Ohne dass ich die Finger im Spiel habe? Das geht gar nicht!
Aber gehe mal kurz in dich und stelle dir eine Situation vor, in dem sich eine Sache, mit der du beschäftigt warst, fast wie von alleine erledigt hat. Nicht du hast geschrieben, sondern die Wörter sind nur so aus dir herausgesprudelt. Die Arbeit, die dir ganz leicht von der Hand ging. Ohne es wirklich zu merken, hat sich alles vor dir entfaltet. Oder wenn du gelaufen bist oder gewandert und sich von ganz alleine ein Bein vor den anderen gestellt hat.
Oft wird dieser Zustand als Flow bezeichnet. Ohne nachzudenken, tun wir, was gerade zu tun ist. Und im Normalfall verknüpfen wir diesen Flow-Zustand mit einer Arbeit, vielleicht noch am ehesten mit einer kreativen Tätigkeit. Selten jedoch beobachten wir diesen Zustand im alltäglichen Leben. Auch mir am Flughafen wäre der Begriff „Flow“ wohl nicht eingefallen, aber im Rückblick war es genau das.
Gerne kannst du für ES auch innere Weisheit, Intuition, Lebensenergie, natürliche Intelligenz oder einen anderen Begriff wählen. Für mich passt am besten in diesem Fall das kleine, unscheinbare Wörtchen „ES“. Denn tatsächlich hat es sich für mich so angefühlt. ES hat mich durch diesen Dschungel geleitet. ES wusste immer ganz genau, was zu tun ist, hat die Ruhe und die Übersicht bewahrt und hat immer die richtigen Entscheidungen getroffen. Und hat mich in eine Art „Flow-Zustand“ versetzt. Und ES hat sich nicht vom plappernden Verstand aus der Ruhe bringen lassen.
Der inneren Intelligenz das Kommando überlassen
Wenn wir uns mal die Zeit nehmen und uns den Tag über beobachten, denn stellen wir fest, dass diese zwei Kräfte ununterbrochen in uns wirken. Auf der einen Seite der Verstand, der ständig etwas will. Du musst noch dies und jenes tun. Das gehört auch noch erledigt. Mach dir lieber einen Plan, damit du weißt, was du noch alles zu tun hast. Alles was passiert, wird kommentiert und in gut und schlecht, richtig und falsch eingeteilt.
Und dann gibt es den Teil in uns, der einfach das tut, was gerade zu tun ist. Das, was auf der Hand liegt, was offensichtlich ist.
Hätte der Verstand am Flughafen die Kontrolle übernommen, dann wäre ich wohl hysterisch hin und her gelaufen, hätte unschuldige Menschen angepöbelt, hätte mich vor laute Ohnmacht vielleicht in einem Weinkrampf wiedergefunden. Der Verstand hätte Wut, Ängste, Unsicherheiten, Zweifel produziert. Denn er hätte auf alle Fälle irgend etwas gewollt und zwar nicht das, was gerade anzufinden war.
So aber überließ ich in tiefem Vertrauen das Kommando meiner inneren Intelligenz. Die wusste was in dieser, für mich neuen Situation zu tun ist und hat alles in Ruhe abgewickelt. Ich war die meiste Zeit gelassen, teils neugierig und sehr entspannt. Es wird schon nicht so schlimm werden und ich werde es überleben. Das war das Gefühl, das mich in der langen, schlaflosen Nacht am Flughafen begleitete.
Wenn wir erkennen, dass der Verstand zwar viel will, aber selbst nichts tun kann, außer kritisieren und analysieren, dann gelingt es uns mehr und mehr dem eigentlichen Handelnden in uns zu vertrauen. Dem ES, der inneren Intelligenz, der Weisheit, der Intuition. Denn die weiß in jedem einzelnen Moment, was das Richtige ist und handelt in Ruhe und mit Weitblick. Auf diese Kraft können wir blind vertrauen.
Und je mehr uns dieses Vertrauen gelingt, umso mehr befinden wir uns in einem ruhigen, ausgeglichenen Flow-Zustand. Das Tun kommt dann von ganz alleine. Und es fühlt sich gut an.
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